Die Personzentrierte Psychotherapietheorie


Die Psychotherapeutische Beziehung

Die psychotherapeutische Beziehung ist nicht qualitativ unterschieden von anderen zwischenmenschlichen Beziehungen. Das bedeutet, dass der Psychotherapeut bzw. die Psychotherapeutin seine bzw. ihre Autorität zugunsten der Selbstwirksamkeit des Klienten bzw. der Klientin aufgibt. Ziel ist, die Selbstwirksamkeit des Klienten bzw. der Klientin zu stärken. Interpretationen oder direktive Interventionen sollen vermieden werden.

Die akzeptierende Haltung des Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin soll dem Klienten bzw. der Klientin helfen, selbstverantwortliche Entscheidungen zu treffen. Dabei spielt es keine Rolle, welche psychische Erkrankung besteht (vgl. Rogers, 1957/1997, S. 182). So gesehen ist die Intervention im Personzentrierten Ansatz nicht störungsspezifisch.

Die Beziehung ist die Intervention. Und sie ist auch nicht auf die Linderung von Störungen allein ausgerichtet sondern generell auf konstruktive Persönlichkeitsveränderung. Bei Klienten und Klientinnen mit Leidensdruck führt das Herstellen der Personzentrierten Grundhaltungen zu einer Einsicht in automatische und destruktive Erlebens- und Veraltensabläufe. Bei Klienten und Klientinnen ohne Leidensdruck führt das Herstellen der Personzentrierten Grundhaltungen zu einem Prozess der Persönlichkeitsveränderung in Richtung auf Entfaltung der Persönlichkeit, Selbstaktualisierung und prozesshaftes Erleben des Selbst.

Die Personzentrierten Grundhaltungen

Die grundlegendste Bedingung ist, dass zwischen zwei Personen – Psychotherapeut bzw. Psychotherapeutin und Klient bzw. Klientin – eine Beziehung von zumindest minimaler zeitlicher Dauer entsteht (vgl. Rogers, 1957/1997, S. 178). Diese Beziehung zeichnet sich dadurch aus, dass der Klient bzw. die Klientin verletzlich oder voller Angst ist. Der Psychotherapeut bzw. die Psychotherapeutin ist in dem Teilbereich seines Selbst, in dem der Klient bzw. die Klientin eine Störung aufweist, echt oder kongruent und nimmt die Haltungen der bedingungslosen positiven Zuwendung und Empathie ein.


Drei der Voraussetzungen für die konstruktive Persönlichkeitsenwicklung betreffen den Psychotherapeuten bzw. die Psychotherapeutin: Echtheit oder Kongruenz, Bedingungslose Zuwendung und Empathie. Entsprechend der Reihenfolge geht Rogers (1991/1980, S. 193) auch von einer Rangordnung aus – Echtheit oder Kongruenz scheint die wichtigste Bedingung zu sein.

Aufgabe des Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin ist, für einen zumindest wesentlichen Teil der Behandlungsbedingungen zu sorgen. 

Im Folgenden werde ich bedeutende Begriffe der Theorie vorstellen und anschließend die Personzentrierte Theorie der Psychotherapie darstellen.
 

Begriffsdefinition

 

Aktualisierungstendenz (vgl. Rogers, 1991, S. 211f):

Die Aktualisierungstendenz stellt die Kraft dar, die Möglichkeiten in einer Weise zu verwirklichen, die der Erhaltung oder Entfaltung des Menschen dienen. Sie wohnt allen lebendigen Organismen – Menschen, Tieren, Pflanzen inne. Sie bringt den Organismus dazu, seine Entwicklung in Richtung Wachstum, Reife und Lebensbereicherung voranzutreiben.
 
Das einfachste Beispiel ist vielleicht das von einem Kleinkind in einer normalen, förderlichen Umgebung. Schrittweise lernt es zu gehen. Beulen, Misserfolgen und Frustrationen zum Trotz bewegt es sich hin zu gesteigerten und bereichernden Mitteln der Fortbewegung. Dies hat sich auch auf psychologischem Gebiet als zutreffend erwiesen. Wenn ein angemessenes Wachstumsklima gegeben ist, kann man auf die Tendenz, daß der Organismus weiter aktualisiert wird, vertrauen, sogar wenn dabei Widerstände und Schmerz zu überwinden sind. (Rogers, 1991a/1980, S. 187)
 
Die Aktualisierungstendenz ist aber, wie bereits angedeutet, nicht immer nur auf Wachstum ausgerichtet. Existiert der Organismus in einem Umfeld, das ihn vom Wachstum abhält, ist es ebendiese Aktualisierungstendenz, die diesmal destruktivere Wege einschlägt. Die Aktualisierungstendenz übernimmt in diesem Kontext erhaltende Aufgaben. Der Aspekt des Überlebens oder Erhaltens ist somit auf Kosten der Entfaltung in den Vordergrund gerückt (vgl. auch Höger, 2012, S. 40).
 

wichtige Andere (vgl. Rogers, 1959/2009, S. 58f)

Beziehungserlebnisse führen zur Entwicklung des Selbstkonzeptes. Sobald sich das Selbst bildet und dem Kind ins Gewahrwerden tritt, sehnt es sich nach positiver Zuwendung durch die Eltern oder andere wichtige Bezugspersonen. (vgl. Rogers, 1959/2009, S. 58). Das Kind benötigt die positive Zuwendung durch wichtige Bezugspersonen, eben die Zuwendung durch wichtige Andere (engl. „need for positive regard“). In seiner Entwicklungstheorie argumentiert Rogers (1959/2009, S. 59f), dass das Kind die Reaktionen der wichtigen Anderen beobachten muss, um zu überprüfen, ob es Liebe erhält. „Es entwickelt eine 'Gestalt' über die Art und Weise, wie es von der Mutter behandelt wird, und jede neue Erfahrung von Liebe oder Zurückweisung wird diese Gestalt beeinflussen“ (Rogers, 1959/2009, S. 60). Das Kind wird durch die Wahrscheinlichkeit, mit der es mütterliche Liebe erhält, gesteuert. Die Bewertungsbedingungen der wichtigen Anderen veranlassen das Kind, die Bewertungen zu verinnerlichen.
 
Es kann sich selbst nicht positiv sehen, sich selbst nicht für wertvoll erachten, wenn es nicht im Sinne dieser Bewertungsbedingungen lebt. Es vermeidet oder bevorzugt bestimmte Verhaltensweisen allein wegen dieser verinnerlichten Raster der Selbstbeachtung, völlig ohne Rücksicht auf die organismischen Konsequenzen dieses Verhaltens. (Rogers, 1959/2009, S. 60)
 
Bewertungsbedingungen können also zulasten der inneren Bewertungsinstanz bei der Symbolisierung von Erlebnissen dominant werden. Die Person lernt somit, sich auf die Reaktionen der wichtigen Anderen zu verlassen und eigene Erlebnisse so zu verankern, dass sie diesen Bewertungsbedingungen entsprechen. Das eigene sinnliche Erleben ist dann nicht Ausgangspunkt für die Symbolisierung (vgl. Rogers, 1959/2009, S. 43). 

Selbst – Selbstkonzept

Rogers hat in seiner Arbeit mit Klienten die Erfahrung gemacht, dass diese dem Konzept des Selbst eine zentrale Rolle zuschreiben (vgl. Rogers, 1991a/1980). Rogers definiert das Selbst als Konstrukt, das Veränderungen unterworfen ist. Für die Veränderung ist die Aktualisierungstendenz verantwortlich. Ein Teil der Aktualisierungstendenz, die Selbst-Aktualisierungstendenz zielt darauf ab, das Selbst als den Ort der Symbolisierung des organismischen Erlebens, der sich auf das Ich oder Mich (engl. 'I' oder 'me') bezieht, weiterzuentwickeln (vgl. Rogers, 1957/1997, S. 27). Das „I“ lässt sich dabei als der subjekt-hafte Teil (Ich) des Selbst und das „me“ als der objekt-haften Teil (Mich) des Selbst definieren (vgl. Höger, 2012, S. 59f).
 
In Übereinstimmung mit der Tendenz zur Differenzierung, die ein Teil der Aktualisierungstendenz ist, wird ein Teil der Erfahrungen des Individuums in einem Gewahrsein des Seins und des Handelns symbolisiert. Diese Art von Gewahrsein wird als Selbsterfahrung bezeichnet. (Rogers, 1959/2009/2009, S. 57).
 
Das Selbst bildet sich im (kindlichen) Organismus nach und nach aus und unterliegt auch später noch Veränderungen.
Durch das im kindlichen Organismus entstehende Selbst entwickelt sich das Bedürfnis nach positiver Zuwendung - nach Rogers ein problematisches Bedürfnis (vgl. Stumm & Pritz, 2000, S. 71). Dieses Bedürfnis bringt den Organismus dazu, sein Selbstkonzept in Übereinstimmung der Beziehungserlebnisse mit wichtigen Anderen (z.B. der Eltern) zu formen. Dies ist nach Rogers (1959/2009, S. 61) der Ausgangspunkt für Inkongruenz zwischen Selbst und Erleben.
Als Selbstkonzept ist nach Rogers der Teil des Erlebens gemeint, der als Ich oder Selbst ins Gewahrwerden der Person treten kann.
 

Selbst-Aktualisierungstendenz (Rogers, 1959/2009, S. 27)

„Die allgemeine Tendenz zur Aktualisierung drückt sich auch in der Aktualisierung des Teils der organismischen Erfahrung aus, in dem sich das symbolisiert, was wir Selbst nennen“ (Rogers, 1959/2009, S. 27). 
Phylogenetisch unterscheidet sich der Mensch durch die Selbst-Aktualisierungstendenz von anderen Organismen (vgl. Stumm & Pritz, 2000, S. 622). 
Vergleichbar der allgemeinen Aktualisierungstendenz führt auch die Selbst-Aktualisierungstendenz zu einer Entwicklung in Richtung Wachstum, Reife und Lebensbereicherung (vgl. die Definition der Aktualisierungstendenz). Die Selbst-Aktualisierungstendenz führt zu einer Entwicklung des Selbst-Konzepts in dieser Richtung. Im Fall von Inkongruenz steht die Selbst-Aktualisierungstendenz mit der allgemeinen Aktualisierungstendenz in Widerspruch. Folge ist ein Zustand von Spannung und innerer Konfusion (vgl. Rogers, 1959/2009, S. 35).
 
Das sogenannte neurotische Verhalten ist hierfür ein Beispiel: Die Aktualisierungstendenz bedingt dieses neurotische Verhalten, während die Selbstaktualisierungstendenz andere Aspekte des Individuums zum Inhalt hat. Das neurotische Verhalten muss somit für das Individuum selbst unverständlich bleiben, weil das Verhalten abweicht von dem, was das Individuum 'will', nämlich ein Selbst zu aktualisieren, das nicht mehr mit der Erfahrung in Einklang zu bringen ist. (Rogers, 1959/2009, S. 35)
 

Erleben

Erleben ist ein Prozess. Es beinhaltet all das, was innerhalb des Organismus potentiell bewusstseinsfähig ist (z.B. Atmung, Sinneswahrnehmungen, ...). „Wesentlich für den Menschen ist, daß diese Erfahrungen symbolisiert werden können (und teilweise werden) und als dynamisch organisierte Gestalt zentrale Grundlage des Selbst bilden“ (Stumm & Pritz, 2006, S. 479). Das Erleben ist bewusstseinsfähig, muss aber nicht im Hier-und-Jetzt bewusst sein. Das Selbst ist die Einheit, auf die bezogen das organismische Erleben ins Gewahrsein tritt.
Zwischen Erleben – also organismischen potentiell bewusstseinfähigen Vorgängen – und dem Selbstkonzept muss nicht notwendig eine Übereinstimmung bestehen.
 
Im Klientenzentrierten Konzept gilt die Qualität, mit der Erfahrungen im Bewusstsein symbolisiert werden, als ein Ergebnis der Interaktion mit bedeutsamen Anderen, die in der bisherigen Entwicklung einer Person stattgefunden haben. (Höger, 2012, S. 55)
 
Je nachdem, welche Beziehungserfahrungen das Kind mit wichtigen Anderen gemacht hat, führt dies dazu, dass das Erleben exakt symbolisiert – also voll bewusstseinfähig, unvollständig symbolisiert – also teilweise bewusstseinfähig, verzerrt symbolisiert – also falsch symbolisiert – oder von der Symbolisierung ausgeschlossen wird (vgl. Höger, 2012, S. 55). Höger nennt als Beispiel unvollständiger Symbolisierung, dass ein Kind, das sich verletzt hat, von der Mutter versorgt wird, das bestehende Trostbedürfnis aber ignoriert wird. Aufgrund der Bewertungsbedingungen wird das Erleben des Bedürfnisses nach Trost nicht im Selbstkonzept symbolisiert. Späteres Erleben von Trostbedürfnis wird nicht im Selbstkonzept repräsentiert und das Gefühl wird daher nicht als Teil des Selbst erlebbar. Verzerrt symbolisiert könnte beispielsweise werden, wenn die Mutter auf den Ärger des Kindes mit der Interpretation „Du bist müde“ reagiert. Später wird dieses organismische Erleben der Wut fälschlicherweise als Müdigkeit im Selbstkonzept repräsentiert. Von der Symbolisierung ausgeschlossenes Erleben ist solches Erleben, das die „(...) bedeutsamen Anderen entweder ignoriert oder als der Person des Kindes nicht zugehörig (...)“ (Höger, 2012, S. 55) deklariert haben. - Etwa durch Reaktionen wie „Das bist du ja gar nicht“. Dieses Erleben ist folglich im Selbstkonzept nicht vertreten.
Deckt sich das Erleben des Organismus nicht mit dem Selbstkonzept, spricht Rogers (1991a/1980, S. 214) von Inkongruenz. Diese Diskrepanz gilt als Zentrum der psychotherapeutischen Arbeit. Rogers (1991a/1980, S. 213) sieht daher das Erleben als wichtigstes Element in der Veränderung durch die Therapie.
 

Gewahrwerden

Erleben, dessen sich die Person gewahr wird, wird im Bewusstsein symbolisch repräsentiert. Durch Bewertungsbedingungen kann die Person gelernt haben, bestimmte Erlebensinhalte nicht im Selbstkonzept zu symbolisieren. Es gibt unterschiedliche Ausprägungen der Klarheit der Gewahrwerdung (vgl. Rogers, 1959/2009, S. 29). Die psychotherapeutische Arbeit konzentriert sich besonders auf das Erleben am Rande der Gewahrwerdung.
 
Wenn der Psychotherapeut bzw. die Psychotherapeutin außergewöhnlich sensibel ist und die eben am Rande der Gewahrwerdung auftauchenden Sinngehalte erfaßt, wird die Reaktion des Klienten bzw. der Klientin wahrscheinlich erst einmal eine Pause sein und dann ein allmähliches Anerkennen: 'Das habe ich vielleicht gemeint. Ja, vielleicht ist es das, was ich gemeint habe.' (Rogers, 1983, S. 25).
 

Echtheit oder Kongruenz (vgl. Rogers, 1991a/1980, S. 201f)

Echtheit oder Kongruenz - nach Rogers (1991, S. 201) die grundlegendste Bedingung - bedeutet, dass der Psychotherapeut bzw. die Psychotherapeutin in der Beziehung ganz er oder sie selbst ist. Er bzw. sie versucht weder bewusst noch unbewusst, dem Klienten bzw. der Klientin oder sich selbst etwas vorzuspielen.
 
Theoretisch wurde diese Bedingung als Kongruenz beschrieben. Das bedeutet, dass dem Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin, was er oder sie auf der Erlebens- oder Bauch-Ebene fühlt, in seinem bzw. ihrem Bewusstsein deutlich gegenwärtig und für direkte Kommunikation dem Klienten bzw. der Klientin gegenüber verfügbar ist, wenn dies angemessen erscheint. Somit ist der Psychotherapeut bzw. die Psychotherapeutin in der Beziehung für den Klienten bzw. die Klientin transparent, er bzw. sie lebt offen die Gefühle und Haltungen, die im Augenblick in seinem oder ihrem Inneren fließen. Das schließt das Bewusstsein des eigenen Selbst ein, und zwar insofern, als dem Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin nicht nur Gefühle und Erfahrungen zugänglich sind, sondern er bzw. sie zugleich fähig sein muss, diese Gefühle in der Beziehung zu leben und zu sein. (Rogers, 1991a/1980, S. 201f)
 
Echtheit bedeutet also nicht unbedingt „Ausdruck des Erlebens“ sondern zunächst „Bewusstsein des eigenen Selbst“. Dieses Selbst ist sozusagen einem Prozess entsprechend, der in der Beziehung auf das Gegenüber reagiert – es interessiert also nur der Inhalt, der dem Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin ins Gewahrwerden tritt. Voraussetzung ist, dass der Psychotherapeut oder die Psychotherapeutin in Hinblick auf die Symbolisierung dieser Inhalte in seinem oder ihrem Selbst keine Inkongruenzen aufweist. Im Gewahrsein des Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin könnte beispielsweise Langeweile oder Angst auftauchen. Wichtigste Voraussetzung ist also, dass sich der Psychotherapeut oder die Psychotherapeutin dieser Inhalte bewusst ist – und nicht, dass er oder sie in gewisser Weise handelt. Manchmal wird dieses Erleben auch in der Beziehung zur Verfügung gestellt, dem Klienten bzw. der Klientin mitgeteilt – aber nicht in Form eines Urteils sondern in Form einer Botschaft, die – bildlich gesprochen – die Reaktion des Resonanzraumes des Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin auf die Beziehungserfahrung mit dem Klienten oder der Klientin vermittelt. Durch diese Reaktion wird beispielsweise die Langeweile höchstwahrscheinlich in den Hintergrund treten. „Der Therapeut ist im Gegenteil wahrscheinlich ziemlich sensibel und neugierig auf die Reaktion des Klienten“ (Rogers, 1991, S. 202). Dies stellt einen neuen Beginn dar, wieder empathisches Verstehen zu empfinden.
 

Bedingungslose positive Zuwendung

Das, was der Klient bzw. die Klientin  in die Beziehung einbringt, stößt aufseiten des Psychotherapeuten bzw. der Psychotherapeutin auf akzeptierende Zuwendung (vgl. Rogers, 1991a/1980, S. 199). Der Psychotherapeut bzw. die Psychotherapeutin ist in der Zeit der Begegnung (also der Therapiestunde) bedingungslos dem Klienten bzw. der Klientin zugewandt. Ziel ist, die ungeteilte Aufmerksamkeit dem Klienten bzw. der Klientin zukommen zu lassen.
 

Empathie (vgl. Rogers, 1991a/1980, S. 194)

Der Psychotherapeut bzw. die Psychotherapeutin erlebt die Welt, als würde er oder sie sie aus den Augen des Klienten bzw. der Klientin betrachten. Die Als-Ob-Bedingung ist wesentlich (vgl. Rogers, 1959/2009, S. 44). Der Psychotherapeut bzw. die Psychotherapeutin, der oder die in diesem Aspekt seines bzw. ihres Selbst keiner Inkongruenz begegnet, ist in der Lage, seine oder ihre Empfindungen und sein bzw. ihr Erleben vollständig ins Gewahrsein zu bringen und sie dem Klienten bzw. der Klientin gegebenenfalls zur Verfügung zu stellen. Ist die Voraussetzung der Empathie erfüllt, gelingt es dem Klienten bzw. der Klientin durch die Beziehungserfahrung, Bedeutungen (am Rand seines Bewusstseins) zu erfassen und in diesem Prozess das Selbstkonzept um Aspekte zu erweitern, die zuvor in Beziehungen mit wichtigen Anderen, die durch Bewertungsbedingungen gekennzeichnet waren, verschlossen wurden. Rogers legt in seiner letzten Entwicklungsphase im Hinblick auf die Empathie einen Schwerpunkt auf intuitive Reaktionen – die er als Ausdruck eines intuitiven Selbst sieht (vgl. Rogers, 1991b/1986, S. 242) und die starke Reaktionen auf Seiten des Klienten bzw. der Klientin nach sich ziehen.
 

Der therapeutische Prozess

Rogers definiert  Entwicklungsstufen die im therapeutischen Prozess durchschritten werden. Auf dem Kontinuum zwischen Inkongruenz zwischen Selbstkonzept und Erleben und Übereinstimmung zwischen Selbst und Erleben steht jeder Klient bzw. jede Klientin auf einem individuellen Punkt des Kontinuums, wenn er oder sie in die Therapie einsteigt. Durch die Aktualisierung der Therapiebedingungen entwickelt sich der Klient bzw. die Klientin in Richtung Übereinstimmung zwischen Erleben und Selbstkonzept.
Rogers (1961/2014, S. 168ff) nennt Entwicklungsschritte von der Inkongruenz hin zur Kongruenz: Zunächst erkennt das Individuum, wie es nicht sein will (...weg von der Fassade, ...weg vom „Eigentlich-Sollte-Ich“, ...weg vom Erfüllen kultureller Erwartungen, ...weg davon, anderen zu gefallen). Über den Schritt zur Entwicklung der Selbstbestimmung erkennt das Individuum schließlich, dass sein Selbst einen Prozess darstellt (vgl. Rogers, 1961/2014, S. 172).
Rogers (z.B. 1991a/1980, 204ff; 1983, 32ff) hat 7 Stufen gekennzeichnet. Eine sehr niedrige Stufe würde bedeuten, dass die Person starre Konstrukte über sich und die Welt gebildet hat. „Gefühle und persönliche Bedeutungen werden weder erkannt noch eingestanden“ (Rogers, 1991, S. 205). Stufe 2 würde bedeuten, dass die Person erkennt, dass ihr ständig die gleichen Probleme passieren – sie ist aber nicht in der Lage, die eigenen Anteile zu erkennen. Erlebt sich die Person auf dieser Stufe voll angenommen, setzt eine Lockerung ein. Gefühle und Erlebnisse werden objekthaft beschrieben. Schreitet der Therapieprozess weiter voran, richtet die Person die Aufmerksamkeit auf das Erleben in der Gegenwart und beginnt ein Gefühl der Selbstverantwortung für Probleme zu entwickeln. Je weiter die Person in der Entwicklung voranschreitet, desto vollständiger wird sie sich ihres Erlebens im Augenblick gewahr. Das Selbst wird mehr und mehr als Prozess erlebt. In diesem Zusammenhang lässt die Verletzlichkeit und Angst, die zu beginn den Therapieprozess bedingt haben, nach.

Personzentrierte Entwicklungstheorie

Da Rogers davon ausgeht, dass die Entwicklung im Rahmen der Psychotherapie repräsentativ ist für die allgemeine Persönlichkeitsentwicklung, postulierte er 1959 eine allgemeine Entwicklungstheorie. Ziel Rogers ist zu zeigen, welche Mechanismen den neugeborenen Säugling dazu veranlassen, seine Persönlichkeit zu entwickeln (vgl. Rogers, 56ff). Zunächst stellt der Organismus eine Einheit dar, die unmittelbar auf seine Bedürfnisbefriedigung ausgerichtet ist. Sein Erleben ist seine Realität. Es gibt noch keine Symbolisierungen (vgl. Rogers, 1959/2009, S. 56). Konstrukte (z.B. Selbst, …) spielen keine Rolle. Beispielsweise Hunger führt zu einem organismischen Spannungszustand, der Erleichterung erfährt, sobald Muttermilch aufgenommen wird. - Die organismische Spannung lässt nach. Der Organismus bleibt aber nicht auf dieser Ebene des Erlebens, sondern die Aktualisierungstendenz als Antrieb führt zu einer Entwicklung des Organismus. Die Selbstaktualisierungstendenz führt dazu, dass ein Teil des Erlebens als „Ich“ eingeordnet wird. „Man kann es sich als eine organisierte, konsistente begriffliche Gestalt denken, zusammengesetzt aus den Wahrnehmungen des 'Ich' ['me' or 'I'] und den Wahrnehmungen der Beziehungen dieses 'Ich' zur Außenwelt und zu anderen“ (Rogers, 1991a/1980, S. 212). Der Organismus entwickelt im Lauf seines Entwicklungsprozesses Symbolisierungen. Ein Teil dieser Symbolisierungen betrifft sein Ich (Selbstkonzept). Es entsteht ein Verständnis dafür, welcher Teil des organismischen Erlebens zur Ich-Struktur gehört. Rogers betont in diesem Zusammenhang den sozialen Aspekt von Lernen. Die Weise, wie der Organismus sein Selbst-Konzept entwickelt, hängt von der Interaktion mit wichtigen Anderen ab. Ihre Reaktion hat darauf Einfluss, wie die Person ihr Selbst erlebt (vgl. auch die Begriffsdefinition zu Erleben). Reagieren die Eltern auf Wut des Kindes mit bedingungsloser positiver Zuwendung, so integriert das Kind die Bedeutungszuschreibung der Eltern in sein Selbstkonzept. Bedingungslose positive Zuwendung würde sich in (verbalen oder non-verbalen) Reaktionen der Eltern wie „Ich sehe, dass du wütend bist.“ ausdrücken. Das Kind legt das organismische Erleben im Selbstkonzept mit der Überschrift „wütend“ ab (diese Symbolisierung muss nicht sprachlich sein). Reagieren die Eltern – z.B. infolge eigener Inkongruenzen („Wut schickt sich für Mädchen nicht, Mädchen dürfen traurig sein, nur Buben dürfen wütend sein“) – mit Ignorieren der Wut und verzerrter Symbolisierung als Traurigkeit, so legt das Kind dieses organismische Erleben verzerrt im Selbstkonzept ab (organismisches Erleben von Wut wird in diesem Beispiel dann als Trauer symbolisiert). Die Überschrift „wütend“ kann nicht zugeordnet werden, die Überschrift „traurig“ wird übernommen. Das organismische Erleben der Wut wird somit im Selbstkonzept nicht repräsentiert. Ein verzerrtes Selbstkonzept ist die Folge. Auf diese Weise können – durch Bewertungsbedingungen – im Selbstkonzept verzerrt symbolisierte, verleugnete und korrekt symbolisierte Bereiche entstehen. Diese Lernprozesse dienen als Erklärung für die Entwicklung psychischer Störungen und sind der Ansatzpunkt der konstruktiven Persönlichkeitsentwicklung, die sich die Personzentrierte Psychotherapie als Ziel setzt.



Literatur


Höger, D. (2012). Klientenzentrierte Persönlichkeitstheorie. In Eckert, J., Biermann-Ratjen, E.M. & Höger, D. (Hrsg), Gesprächspsychotherapie. (2. überarbeitete Auflage). Heidelberg: Springer. 37-72.


Rogers, C. R. (1997). Die notwendigen und hinreichenden Bedingungen therapeutischer Persönlichkeitsveränderung. Psychotherapie Forum, 5, 3, 177-185. (Orig. erschienen 1957: The necessary and sufficient conditions of therapeutic personality change. Jorunal of Consulting Psychology, 21, 2, 95-103).

 

Rogers, C. R. (1983). Therapeut und Klient. Frankfurt a. M.:Fischer.

 

Rogers, C. R. (1991a). Klientenzentrierte Psychotherapie. In: Rogers, C. R. & Schmid, P. F. Person-zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis.  Mainz: Grünewald. (185 – 236). (Orig. erschienen 1980: Client-centered psychotherapy. Comprehensive textbook of psychiatry, III, 30, 2153-2168).

 

Rogers, C. R. (1991b). Ein klientenzentrierter bzw. Personzentrierter Ansatz in der Psychotherapie. In: Rogers, C. R. & Schmid, P. F. Person-zentriert. Grundlagen von Theorie und Praxis.  Mainz: Grünewald. (238 – 256). (Orig. erschienen 1986: A client-centered / person-centered approach to therapy. Psychotherapist's Casebook. Theory an technique in the practice of modern times, San Francisco: Jossey Bass. 197-208.)

 

Rogers, C. R. (2009). Eine Theorie der Psychotherapie. München: Reinhardt. (Orig. erschienen 1959: A theory of therapy, personality and interpersonal relationships as developed in the client - centered framework. In Koch S. (Ed.), Psychology: A study of a science. 3 Formulations of the person and the social context (184 - 256). New York: Mc Graw Hill).

 

Rogers, C. R. (2014). Entwicklung der Persönlichkeit (19. Auflage). Stuttgart: Klett-Cotta. (Orig. erschienen 1961: On Becoming a Person. A Therapist's View of Psychotherapy. Boston: Mifflin).

 

Stumm, G. & Pritz, A. (Hrsg.) (2000). Wörterbuch der Psychotherapie. Wien: Springer.